So oft habe ich es schon erzählt in den letzten Tagen. Nun sollt Ihr erfahren, wie Hans Christians letzter Tag war. Erst einmal fragt man sich, welches denn der letzte Tag ist? Man versteht darunter den Tag, bevor man – nach Meinung der Ärzte – gestorben ist.
Letzten Montag um 5.44 Uhr klingelte das iPhone auf meinem Nachttisch. Die Ärztin berichtete, dass man um 2 Uhr Morgens mit der Dialyse begonnen hätte. Hans Christian hatte schon immer eine Niereninsuffizienz gehabt, nun waren die Nierenwerte bedrohlich. Und sein Herz war so schwach, es hatte Komplikationen gegeben.
Das hatte ich schon am Samstag bei der Aufnahme in die Klinik erfahren. Eigentlich waren wir an diesem Tag hingefahren, weil gerade ein Einzelzimmer frei geworden war. Aber er kam dann sofort auf die Intensivstation – und er war dort schon nicht mehr bei Bewusstsein. Am Sonntag sagte man mir, dass er jeden Moment sterben könnte.
In der Nacht war ich noch einmal mit ihm in Armentarola gewesen, wo wir so viele glückliche Tage erlebt hatten. Ich las unserer Senta die schönen Geschichten aus meinem Armentarola-Buch laut vor. Immer wieder schickte ich ihm eine Nachricht durchs Universum, noch ein wenig durchzuhalten.
Ich wollte doch so gerne noch einmal mit ihm und Senta – mit meiner kleinen Familie – nach Armentarola reisen. Ich hatte die Reise schon geplant, von Neujellingsdorf aus, mit zwei Zwischenstopps in Hotels, die behindertengerecht waren und große Hunde akzeptierten. In allen Einzelheiten hatte ich überlegt, wie ich zuerst ihn und dann Senta ins Hotel bringen würde. Ich hatte gehofft, dass wir mit dem Schwenksitz fürs Auto alles bewältigen könnten. Der wurde dann aber leider nicht genehmigt.
Anfang März 2013 war unsere Situation so schwierig, dass ich einen Moment daran gedacht hatte, alleine mit Senta nach Armentarola zu reisen. Aber Hans Christian wollte nicht in ein Pflegeheim, und so beschloss ich, dass wir auf jeden Fall zusammen bleiben, alle drei – egal ob wir verreisen oder zu Hause bleiben. Auch wenn manche Leute meinten, ich sei verrückt. Ich stornierte daher die Buchung und hoffte, dass wir später fahren könnten.
In dieser Nacht nun erinnerte ich mich an all die schönen Erlebnisse in Armentarola, dann schlief ich kurz und tief – bis das Telefon klingelte. Ich weiß nicht mehr, was die Ärztin alles gesagt hat, ich fragte sie nur, ob ich kommen sollte. Dieser Anruf dauert knapp zwei Minuten, dann rief ich Marlen an und unsere Freunde Jeanne und Wilfrid in Dinslaken. ich duschte, zog mich an und ließ Senta hinaus. Um 6 Uhr stand ich schon am Auto und wartete auf Marlen, die mich an diesem Tag begleiten würde. Sie war mir eine große Stütze, genau wie Jeanne und Wilfrid und unser Hausarzt, mit denen ich dann telefonischen Kontakt hatte.
Nach einer knappen Stunde Autofahrt erreichten wir Neustadt, wo uns ein heller Stern den Weg zur Klinik am Strand zeigte. In diesem Moment erinnerte ich mich an ein Gedicht, das uns vor ein paar Jahren eine Freundin geschenkt hatte: Rudern zwei ein Boot, der eine schaut nach den Sternen, der andere sorgt dafür, dass der Kurs gehalten würde.
Auf der Intensivstation lag Hans Christian an vielen Geräten angeschlossen. Bei der Morgenvisite berichtete die Ärztin der Nachtschicht dem Professor. Ich dachte, wie kann man nur so pessimistisch sein und sagte: Ein Forsbach gibt nicht so schnell auf, wir sind Optimisten. Die Geräte sind doch dazu da, den Menschen am Leben zu erhalten. Man kann doch nicht einfach abschalten, auch nicht, wenn ein Mensch dement wäre. Kurz darauf sagte mir der Oberarzt, dass Hans Christian im Sterben liegt. Wenn wir Kinder hätten, sollte ich die jetzt schnell benachrichtigen.
Draußen war es hell geworden, ein wunderbarer frühlingshafter Tag begann. Der Winter hatte Pause gemacht an Hans Christians letztem Tag. Mir fiel die Affirmationskarte ein, die in den letzten Wochen im Badezimmer hing, jeden Tag hatte ich sie Hans Christian vorgelesen: „Ich bin dankbar dafür, dass ich heute lebe. Es freut mich und ist ein Genuss, einen weiteren wundervollen Tag zu erleben.“
Marlen hatte mir gesagt, dass Sterbende noch alles hören, was man ihnen sagt. Und ich erzählte Hans Christian von dem hellen Stern, zu dem er jetzt fahren würde. Ich würde ihm dann jeden Abend zuwinken und lachen, wie es der kleine Prinz bei Antoine de Saint-Exupery gesagt hatte:
Und deine Freunde werden sich wundern, wenn du zum Himmel schauen und dabei lachen wirst. Dann wirst du ihnen sagen:
„Ja, die Sterne bringen mich immer zum Lachen!“
Und sie werden meinen, du bist verrückt.
Ich erzählte Hans Christian, dass wir direkt am Strand wären – immer, wenn wir am Meer waren, hatten wir ein Hotel direkt am Strand gewählt, auch diese letzte Station seines Lebens hatte eine solch wunderbare Lage. Wir würden eine Bootsfahrt hinaus aufs Meer machen, wo uns an diesem Morgen die Sonne golden entgegen strahlte. Er müsste nur nach den Sternen schauen, ich würde rudern, aber er dürfte jetzt einfach losfahren.
Am Ende, ganz am Ende, würde das Meer in der Erinnerung blau sein – so hieß es in dem Gedicht. Und ich erinnerte Hans Christian an all die schönen Reisen, die wir zusammen gemacht hatten, an Armentarola, wo die Berge im Abendrot so schön leuchteten, wo wir so viele schöne glückliche Tage erlebt hatten.
Immer hatten wir uns verziehen, wenn wir uns weh getan hatten. Und das taten wir an diesem Morgen auf der Intensivstation auch. In den letzten Tagen, Wochen, Monaten hatte es schlimme Situationen gegeben, die viel Kraft kosteten. Hans Christian wollte 100 Jahre alt werden, aber seine Helfer und ich sollten auch durchhalten bis dahin. An unserem letzten Abend zu Hause war wieder unsere alte Harmonie dagewesen und alles war vergeben. Jeden Tag hatten wir uns gesagt, dass wir uns lieb hatten.
Immer wieder hatte ich zu Hans Christian gesagt: Du bist beschützt. Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. In der Weihnachtszeit hatten wir jeden Tag den Chorsatz von John Rutter gehört „The Lord bless you and keep you – Gott segne und behüte dich“. Hans Christian hatte doch immer so viel Angst gehabt, die von seiner Kindheit im Krieg herrührte. Nun musste er keine Angst mehr haben. Mir fiel das schöne LIed „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ein, das wir vor einigen Jahren in Bamberg oft gehört hatten. Und ich sang ihm leise das gesamte Lied ins Ohr.
Dann fielen mir die kölschen Lieder ein, die ihm eine Freundin vor vier Jahren zum Mutmachen geschickt hatte: „Spaziergang durch Kölle“ – „Bei D’r Schwazze Madonna in d’r Koffergass“ und „Uns Kölsche Siel“:
Uns kölsche Siel, die kann uns keiner nemme,
die hät der Herrgodd deef en uns gelaht.
Un wä die sök, muss bes zom Hätze klemme,
denn do allein, do litt dä Schatz verwahrt.
Auf Hochdeutsch:
Unsere kölsche Seele, die kann uns keiner nehmen,
die hat der Herrgott tief in uns gelegt.
Un wer die sucht, muss bis zum Herzen klettern,
denn da allein, da, liegt der Schatz verwahrt.
Und da spürte ich es: Hans Christian war nach Hause gekommen.
Ich spielte noch ein Lied von Nana Mouskouri, das wir beide gerne mochten, aber mittendrin stellte ich es ab. Ich spürte es ganz deutlich: Hans Christian war friedlich eingeschlafen. Das war gegen 12.30 Uhr.
Ich schaute mich um auf der Intensivstation, aber niemand war da. Die Maschinen arbeiteten weiter, die Bettdecke hob und senkte sich. Bis zur nächsten Visite zog sich die Zeit dahin, auch wenn wir zwischendurch zum Strand gegangen waren. Hans Christian sollte nicht mehr kämpfen müssen gegen Medikamente in unglaublich hoher Dosis, die ihn am Leben erhielten, obwohl er schon gestorben war. Er hatte sich entschieden, zu gehen – auf seine letzte große Reise. Er würde sein Muttchen wieder treffen, seinen Bruder Wolfgang, der erst im letzten Jahr gestorben war, und auch endlich meine Mutter treffen, die er in unserem Leben leider nicht mehr kennengelernt hatte.
Am Abend fuhr ich zum Südstrand, um die Heizung in unserer Ferienwohnung anzustellen. Unsere Freunde würden kommen. Es war stockdunkel, als ich über die Strandallee fuhr, um die Ecke bog und mich dem Yachthafen näherte. Als ich an unserem Haus ankam, fuhr ein hell beleuchtetes Boot hinüber zum Hafen. Ich dachte: Nun fährt Hans Christian in den Heimathafen. Kaum hatte ich den Motor abgestellt, klingelte das Telefon und die Ärztin sagte mir, dass Hans Christian gerade gestorben sei.
Zu Hause fiel mir eine Strophe aus dem Lied „Gemeinsam unterwegs“ ein, das wir so oft auf unseren Reisen im Auto gehört hatten: „Am Ziel der Reise irgendwann kommt unser Schiff im Hafen an. Wir laufen ein mit letztem Schwung, beladen mit Erinnerung. Wir sind gemeinsam unterwegs, auf einer Reise durch die Zeit. Wir steuern unser kleines Schiff im großen Meer der Ewigkeit.“