Heute war der Ewigkeitssonntag, auch Totensonntag genannt – in der evangelischen Kirche der Tag des Gedenkens an die Verstorbenen. Der Pfarrer unserer St. Petri Gemeinde in Landkirchen hatte mir einen netten Brief geschickt und mich zum Gottesdienst eingeladen. Denn am Ewigkeitssonntag werden alle Menschen aus der Gemeinde, die im vergangenen Kirchenjahr verstorben sind, noch einmal mit Namen genannt. Für jeden wird dann eine Kerze angezündet.
Ich habe mich über die freundliche Einladung gefreut, wäre aber sowieso heute zur Kirche gegangen. „Sie brachten im zurückliegenden Jahr einen Menschen zu Grabe, der zu Ihnen gehörte und Sie zu ihm“, so heißt es in dem Schreiben. „Die Erinnerung an das gemeinsame Leben ist noch nicht verblasst. Die Zeit heilt wohl Wunden, aber vergessen lässt sie nicht, Was geschieht wirklich mit uns, wenn wir sterben? Ist alle Vergangenheit ohne Hoffnung auf einen neuen Anfang?“
Der Gottesdienst war sehr schön, ich höre unseren Pfarrer immer gerne reden, und ich mag die Musik. Viel Musik gab es heute, Orgelmusik, Gemeindegesang und Gesänge des Kirchenchors. Mein Ort der Trauer jedoch liegt nicht in diesem Gottesdienst, sondern im täglichen Leben.
Ich habe meinen Hans Christian in mein Leben integriert, in unser Leben, denn Senta, meine Berner Sennenhündin, gehört dazu. Auch sie hat ihr Herrchen schmerzlich vermisst, und noch heute kommt sie manchmal in der Nacht in mein Schlafzimmer und sucht dort, wo er immer lag. Ich aber gehe fast jeden Tag zu seinem Grab, das gehört zum alltäglichen Ablauf dazu. Genau wie die dreizehn Rosen, die immer auf seinem Grab stehen.
Dreizehn Rosen für fast dreizehn Ehejahre. Nicht viel? Doch! Unendlich viel! So viel Glück, wie wir zusammen erlebt haben, seit wir uns vor 18 Jahren kennenlernten, erlebt kaum jemand in dieser Intensität. Ich erzähle ihm jeden Tag, was wichtig ist für mich. Und manchmal höre ich seine Antwort: „Ja, geh jetzt mal nach Hause und iss etwas! Pass auf Dich und das Hündchen auf!“ Und: „Mach Dir ein schönes Leben! Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Ich sage ihm immer, wie froh ich bin, dass es ihm gut geht, da wo er jetzt ist. Und dass ich ihn liebe – auf immer und ewig. Die Predigt heute hat mir bestätigt, dass dort in der Ewigkeit, bei Gott, Frieden ist und es unseren lieben Verstorbenen dort gut geht. Und ich habe mir gedacht, wie wichtig es doch ist, schon im Leben hier diesen Frieden zu spüren. Keine Last, keine Konflikte, kein Zank und Streit, einfach nur Harmonie und Frieden – in mir und um mich herum.
Wir leben heute doch in einer glücklichen Zeit, haben keine Kriegserlebnisse, die uns bedrücken, so wie es bei meinem Mann (Jg. 1937) war. Ein Trauma aus seiner Kindheit hatte ihn gequält, ihm Ängste und Albträume bereitet. Eine Zeitlang wollte er nicht mehr leben, er hatte wohl früh gemerkt, dass seine Kräfte – die körperlichen wie die geistigen – ihn verließen. Später aber wollte er 100 Jahre alt werden – denn er wurde gut versorgt, war nie mehr alleine, bekam Pflege und Betreuung durch viele liebe Menschen. Er hatte endlich die Liebe gefunden, die ihm als Kind im Krieg gefehlt hatte. Und die ihn zwei gescheiterte Ehen gekostet hatte. „Die dritte Ehe aber ist göttlich“, sagte er immer, und auch, wie glücklich er war, endlich die Liebe gefunden zu haben. Die wahre Liebe.
Und diese Liebe trägt mich weiter in der Zeit der Trauer. Sie lässt mich die Erinnerungen an unser schönes gemeinsames Leben bewahren, denn diese Erinnerungen sind kostbar. Die eher unschönen Erinnerungen verblassen so allmählich, wie es doch zum Glück immer ist im Leben. Man behält das Gute und vergisst das weniger Gute. Ich bin so dankbar für unsere gemeinsamen Jahre, für die wahrhaft lange Zeit unseres Glücks.
Man sagt immer: Du musst loslassen – so wurde es mir auch am Sterbetag meines Mannes gesagt. Die physische Existenz musste ich loslassen, aber Geist und Seele sind immer noch präsent. Ich achte auf Zeichen – ein funkelnder Stern am Nachthimmel, eine Rose, die noch im November wunderschön blüht, ein Schmetterling, der tagelang in unserem Wohnzimmer auf der Gardine saß.
Und wenn ich morgens wach werde, dann denke ich nicht: „Ich bin jetzt allein, er fehlt mir.“ Sondern ich freue mich darüber, dass ich diesen schönen Tag erleben darf, bin dankbar dafür, dass ich in der Nacht gut und friedlich geschlafen habe. Und manchmal höre ich ihn, wie er beim Wecken immer antwortete, wenn ich fragte, ob er gut geschlafen hätte: „Ich schlafe doch immer noch!“ Und ich erinnere mich an all die fröhlichen Morgenstunden, wenn die Pflegerin und ich meinen Mann aus dem Bett holten.
In der Zeitung las ich heute: „Wir haben nie mehr einen Weihnachtsbaum, weil er ihn so geliebt hat.“ Ich mache es anders: Ich werde wieder einen schönen Weihnachtsbaum haben, weil Hans Christian den immer so liebte. Und ich werde Weihnachten feiern, wie wir es immer getan haben. Und er wird dabei sein – in meiner Erinnerung.
Es ist schön, wenn ich Gewohnheiten aus unserem gemeinsamen Leben bewahren kann. Auch wenn ich jetzt manches anders mache, und wenn ich mich inzwischen auch an der neu gewonnenen Freiheit freue. Aber ich mache das im Sinne unserer Liebe, es ist wie ein Vermächtnis meines Mannes. Und das ist gut so.
Ein guter Freund hatte mich kurz nach dem Tod meines Mannes davor bewahrt, den schönen Flügel zu verkaufen, den ich meinem Mann zehn Jahre zuvor geschenkt hatte. Es schmerzte mich damals so sehr, dass er ihn nicht mehr genießen konnte, und auch, dass ich nicht noch einmal darauf gespielt hatte, als wir damals auf den Krankenwagen warteten. Daher wollte ich ihn nicht mehr sehen, auch ihn loslassen.
Heute weiß ich, wie kostbar dieser Flügel für mich ist – und wenn ich in der kommenden Adventszeit spät am Abend Weihnachtslieder darauf spiele, und Brahms, Schumann und Schubert, dann werde ich spüren, dass mein Mann dabei ist und zuhört. Ich werde ihn wieder in der angrenzenden Küche in seinem Rollstuhl sitzen sehen. Und ich werde vielleicht vor Glück und vor Trauer weinen. Aber das ist nicht schlimm. Und meine Senta wird mich wieder trösten.
Nächste Woche beginnt die Adventszeit – ich habe nachgedacht, wie ich die gestalte: Mit viel Stille und Musik. Und den Adventskalender mit den 24 Säckchen werde ich auch aufhängen – die geraden waren immer für mich, die ungeraden für Hans Christian, weil er am 19. Dezember Geburtstag hat. Ich habe mir ausgedacht, dass Senta in diesem Jahr die ungeraden Säckchen bekommt – werde also Leckerli hineinlegen statt Schokolade.
Zum Schluss denke ich an die Menschen, die heute im Gottesdienst ihre Tränen nicht zurückhalten konnten. Ihnen wünsche ich, dass sie irgendwann ihre Trauer bewältigen und zum wichtigen Teil ihres Lebens machen können.
Im Seniorenforum Feierabend.de ist mein Blog als Beispiel veröffentlicht worden, wie man den Verlust des Partners bewältigen kann. Dort kann noch mehr Geschichten von anderen Menschen lesen: http://www.feierabend.de/Trauer-und-Vorsorge/Trauerbewaeltigung-vom-Umgang-mit-Verlust-55531.htm
Ich wünsche Ihnen allen einen ruhigen und friedlichen Ausklang des Ewigkeitssonntages.