„Vielleicht, Beate, musst auch Du einfach mal raus und andere Menschen hören und sehen?“ Das schrieb mir eine ehemalige Klassenkameradin am Ostersonntag. In meinem Blog „Ostern – Ein Zukunftsfest“ hatte ich auch von einer seit Wochen andauernden Erkältung geschrieben, und dass jede Krankheit ein deutliches Hinweisschild in Richtung Leben ist. Ich hatte versucht, sie anzurufen – zum ersten Male seit unserem Abitur vor über 40 Jahren mit ihr zu sprechen, aber am Telefon hörte ich nur ein Freizeichen.
Am Mittwoch nach Ostern geschah es: ich biss herzhaft in einen Apfel und es knackte in meinen Zähnen. Am Abend fühlte ich vorsichtig, was da geschehen war: offenbar war etwas gebrochen, und es wackelte ziemlich. Schon seit einiger Zeit hatte ich Zahnschmerzen gehabt, die ich auf die Nebenhöhlenentzündung geschoben hatte. Sofort fiel mir mein ehemaliger Zahnarzt in Bamberg ein … absurd, so schien es. Am nächsten Tag fragte ich eine Freundin nach ihrem Zahnarzt in Lübeck. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen ganz besonderen Zahnarzt brauchte. Aber in Lübeck waren Osterferien, und auf Fehmarn auch.
Wenige Tage später war ich bei einem Zahnarzt auf Fehmarn, der nur meinte: „Alles muss raus“. Er konnte mir keine wirkliche Alternative anbieten. Ich bekam einen Termin bei einem anderen Zahnarzt, nur zum Einholen einer Meinung, aber nach ein wenig Herumhören sagte ich den wieder ab. Etwas verzweifelt rief ich an diesem Nachmittag meinen ehemaligen Zahnarzt in Bamberg an. Der erinnerte sich gut an mich und war zuversichtlich, dass er mir helfen konnte. Er war auch bereit, die Termine so zu legen, dass ich mit einigen wenigen Reisen nach Bamberg auskäme.
Als ich zwei Tage später mit ihm die Termine vereinbart hatte, war ich glücklich. Meine Hundefreundin würde sich um Senta kümmern, und ich bereitete meine erste kleine Reise nach mehreren Jahren vor – nach Bamberg, wo wir fast sieben Jahre lang gewohnt hatten. Ich buchte ein Zimmer in der „Wilden Rose“, einem Gasthof mitten in der Stadt, wo mein Mann und ich Stammgäste gewesen waren. Unsere Freunde hatten immer dort gewohnt, wenn sie uns besucht hatten. Und meine Promotion hatten wir dort auch gefeiert, vor fast zehn Jahren. Ich begann, mich auf die kleine Reise zu freuen.
Zwar bin ich immer optimistisch, aber ich zog die Möglichkeit in Betracht, dass mir die wackelnden Zähne gezogen würden. So vereinbarte ich mit meiner Hundefreundin, einen Tierservice hinzu zu ziehen und zweimal in Bamberg zu übernachten.
Am Morgen des 28. April ging ich mit Senta nach Landkirchen, um sie zu meiner Hundefreundin zu bringen. Senta fährt ja noch nicht mit dem Auto. Zurück in Neujellingsdorf startete ich zu meiner kleinen Reise nach Bamberg. Bis Hamburg war ich noch ein wenig unsicher, ob ich die weite Fahrt wohl schaffen würde. Mit Hans Christian war es ja immer recht beschwerlich gewesen, seit er im Rollstuhl saß. Wir hatten damals immer in Hamburg übernachtet. Immerhin waren es fast 700 km bis nach Bamberg.
Als ich Hamburg hinter mir gelassen hatte, wuchsen mein Mut und meine Kraft, und ich fuhr bis zu der ersten Raststätte, wo wir immer gehalten, getankt und gerastet hatten. Ich war überrascht, dass ich mich zwar sehr gut erinnerte, aber meinen Hans Christian immer sah, wie er von der Toilette zurück kam – mich einfach nicht an ihn im Rollstuhl erinnern konnte.
Dann kam eine wundervolle Fahrt durch die schönste Frühlingslandschaften – Lüneburger Heide, Harz, hessisches Bergland, Rhön. An der nächsten Raststätte konnte ich mich gut an den Transfer mit dem Rollstuhl erinnern, sah den Behindertenparkplatz, das Behinderten-WC – und einen Mann mit großem Hund beim Gassigehen. Ich stellte mir vor, es sei Senta und wünschte mir, dass sie beim nächsten Male dabei wäre. In der Raststätte saß ich am selben Tisch wie viele Male zuvor mit Hans Christian. Alles war gut.
Ich kannte die Landschaften sehr gut, freute mich, als ich über die Grenzwaldbrücke nach Bayern fuhr – wie hatten wir uns damals gefreut, endlich in Bayern zu leben, als wir vom Niederrhein nach Bamberg umzogen. Dann begann das Fränkische Weinland, und schon kam das Schild, auf dem Bamberg angekündigt wurde. Ich freute mich, es nach fast fünf Jahren wieder zu sehen. Und dann erst der Moment, als man von der Autobahn aus zum ersten Male die Türme von Bamberg in der Ferne sehen konnte – früher hatten wir immer gewettet, wer sie als erster sah – heute kamen mir die Tränen vor Freude und Erinnerung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Hans Christian auf dem Beifahrersitz saß – wie bei unserer letzten Abreise Anfang Oktober 2010, als wir endgültig nach Fehmarn umzogen.
Schon bald fuhr ich von der Autobahn ab, kannte alles noch gut, tankte dort, wo ich immer getankt hatte, und fuhr durch die Innenstadt bis zu meinem Hotel. Eigentlich hatte sich nichts verändert – bis auf die Baustellen, die jetzt an etwas anderer Stelle als vor fünf Jahren waren.
In der „Wilden Rose“ kannte man mich noch, und der erste Termin am Abend bei meinem Zahnarzt zeigte mir, dass es richtig gewesen war, diese Reise zu machen. Das Zahnziehen wurde auf den nächsten Tag verschoben, denn ich wollte den Abend in der „Wilden Rose“ bei Käsespätzle und fränkischem Silvaner genießen.
Am nächsten Tag war wundervolles Frühlingswetter – Bamberg ist dann schon ein wenig italienisch: die Tische werden hinaus gestellt, die Jacken ausgezogen, alles spielt sich im Freien ab. Dass der Verkehr in der engen Gasse schon morgens um halb 6 begann, störte mich an diesem Tag kaum. Aber so richtig war ich es nicht mehr gewohnt.
Ich schlenderte durch Bamberg und freute mich über die schönen Ausblicke: Kesslerstraße, Grüner Markt, Gabelmann, Obere Brücke, Altes Rathaus, Eiscafé Bassanese, das Hofbräu, wo wir an einem schönen Sommerabend beschlossen hatten, nach Bamberg umzuziehen, die Regnitz, die Lange Straße. Ich ging in den Teeladen, bei dem ich seit Jahren immer unseren Tee bestelle. Nun konnte ich die Teevorräte direkt einkaufen. Die Besitzerin erkundigte sich nach Hans Christian – als sie mit ihrer Familie auf Fehmarn gewesen war, hatte er noch gelebt.
Mittags dann kam die Behandlung beim Zahnarzt. Nach zwei Stunden Mittagsruhe ging ich noch einmal dorthin. Danach konnte ich ein wenig um das Gerichtsgebäude schlendern, um unseren alten Wohnsitz in der Franz-Ludwig-Straße zu sehen. Dort kam gerade der Nachbar von ganz unten nach Hause und freute sich, mich zu sehen. Ich wurde hinein gebeten und gemeinsam mit seiner Frau tauschten wir Erinnerungen und Neuigkeiten aus. Später ging ich den altvertrauten Weg bis zur „Wilden Rose“. Dort bediente mich die Kellnerin, die bereits bei unserem ersten Aufenthalt im April 2000 dort gewesen war. Wir erzählten und tauschten Erinnerungen aus. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, dass mein Mann im Rollstuhl gesessen hatte – das war umso schöner. Wie gut, dass die guten Erinnerungen bleiben, und die weniger guten verblassen.
Am nächsten Vormittag hatte ich Zeit, durch die Stadt zu schlendern. Zum Zahnarzt musste ich erst wieder am frühen Nachmittag. Auf dem Grünen Markt kaufte ich Bamberger Spargel und Erdbeeren ein – bei den Marktleuten, die sich freuten, mich wieder zu sehen. Von den drei großen Universitätsbuchhandlungen, die uns bei unseren früheren Besuchen immer so sehr angezogen hatten, gab es nur noch eine. Ich stöberte in den Regalen und fand ein Buch über Bamberg am Ende des Zweiten Weltkriegs. Bambergs „bester Blumenladen“ in der Hauptwachstraße, wo Hans Christians Mutter im Krieg gearbeitet und wir immer die ganz besonderen Blumen gekauft hatten, war einem Vodaphoneladen gewichen.
Der Geschenkeladen, wo man die Engelkapelle aus dem Erzgebirge kaufen konnte, war geschlossen. Aber die Bratwurstbude gab es noch, unseren Friseurladen und viele andere vertraute Läden auch. Sogar der Töpferladen an der unteren Brücke, wo ich einst als Studentin einen Kerzenleuchter gekauft hatte, und der Hutladen, wo mein Mann für mich den Doktorhut bestellt und mit dem Inhaber über den Bamberger Schachclub gefachsimpelt hatte, waren noch da. Ein Xylophonspieler machte Straßenmusik gegenüber vom Gabelmann, der leider wegen Renovierung eingezäunt war.
Irgenwo da – in dem bunten Gewühl der Fußgängerzone zwischen wunderschönen alten Häusern und modernen Läden – überkam mich das ganz starke Gefühl, dass es hier sehr schön war und ich mich auch auf den nächsten Zahnarztbesuch in sechs Wochen freute. Aber ich spürte deutlich, dass ich mich zurück auf meine schöne Insel Fehmarn sehnte, dass es richtig für mich war, dort zu leben, dass ich nur dort wirklich glücklich war.
Ich hatte das deutliche Gefühl, dass es gut gewesen war, Bamberg nach den schönen, glücklichen und durch Hans Christians Erkrankung weniger glücklichen Jahren verlassen zu haben. Die Erinnnerungen an unser Leben dort waren schön und manchmal ein wenig schmerzlich, aber ich freute mich auf meine Rückkehr nach Fehmarn, der für mich schönsten Insel der Welt.
Bevor ich am Mittag noch einmal zum Zahnarzt ging, las ich in dem Buch über das Kriegsende in Bamberg. Ich war mehr als erstaunt zu erfahren, dass es in Bamberg gar nicht so friedlich gewesen war, wie ich immer gedacht hatte. All die Jahre war es mir ein Rätsel gewesen, warum mein Mann einer der wenigen gewesen sein sollte, dessen Haus durch eine Bombe zerstört wurde. Seine Krankheit begann ja mit Panikattacken und Erinnerungen an seine Kriegskindheit. Immer hatte er erzählt, dass er als Sechsjähriger zugesehen hatte, wie sein Wohnhaus abbrannte. Irgendein schreckliches Erlebnis, ein Trauma belastete ihn, und wir konnten es nie wirklich auflösen.
Nachdem ich aber das Buch gelesen hatte, wurde mir klar, dass es in Bamberg gar nicht so friedlich gewesen war, und dass viele Menschen bei Bombenangriffen gestorben waren. Niemals mehr werde ich erfahren, was mein Mann als kleiner Junge dort erlebt hat. Ich hoffe nur, dass er inzwischen seinen Frieden gefunden hat.
Am Abend des dritten Reisetages war ich wieder zu Hause in Neujellingsdorf. Senta erwartete mich mit großer Freude. Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster auf das herrlich erblühte Rapsfeld sah, wusste ich, dass ich wirklich glücklich war.
Meine kleine Reise nach Bamberg war ein großer Schritt gewesen, die Vergangenheit aufzuarbeiten – und die Zähne in Ordnung zu bringen. Ich fand es schön, dort gewesen zu sein, die Schönheit der Stadt zu erleben und all die Erinnerungen an schöne Zeiten zu genießen.
Und ich war froh, wieder zu Hause zu sein.