Ein Freund hatte mich eingeladen zu diesem Konzert: Die drei Sonaten für Violine und Klavier von Johannes Brahms, gespielt von dem spanischen Geiger Abel Tomàs und dem israelischen Pianisten Amir Katz.
Schon lange hatte ich tief in mir gespürt, dass sich vieles änderte in meinem Leben. Ich wollte sie loslassen – meine Geige, die ich seit nunmehr 40 Jahren besitze. Eine wunderschöne französische Violine des Geigenbauers Georges Apparut aus dem Jahr 1944 – 71 Jahre alt ist sie inzwischen. Ich hatte lange gespart, neben dem Studium gejobbt und sie mir dann gekauft, um mein Examensprogramm im November 1975 auf einer wirklich schönen Violine spielen zu können: Die erste Solosonate in G-moll von Johann Sebastian Bach, die Romanze F-dur von Ludwig van Beethoven – und die Sonate G-dur von Johannes Brahms.
Schon im Januar 2007 hatte ich während der Mozartwoche in Salzburg einen ganz jungen Geiger erlebt, der das Violinkonzert G-dur von Wolfgang Amadeus Mozart so schön spielte, dass mir die Tränen vor Rührung kamen – und vor Wehmut, denn dieses Konzert hatte ich auch in meinem Studium an der Kölner Musikhochschule gespielt. Damals wusste ich noch nicht, dass schwere Jahre auf mich zukommen würden, in denen ich meine schöne Violine kaum noch in die Hand nehmen würde.
Irgendwann in diesem Sommer sah ich Anne-Sophie Mutter im Fernsehen – begleitet von ihren jugendlichen Musikern – und ich entschloss mich, meine Geige loszulassen, damit künftig jüngere Musiker darauf spielen könnten. Die Stiftung von Anne-Sophie Mutter hatte gerade ein Instrument erworben und verwies mich an die Deutsche Stiftung Musikleben in Hamburg. Irgendwann im August hörte ich Anne-Sophie Mutter mit der Violinromanze F-dur von Beethoven im Radio – und wollte diesen Blog schreiben. Aber so einfach ist das nicht mit dem Loslassen.
Warum eigentlich? Warum möchte ich meine schöne alte Geige verkaufen? Ich habe sehr schöne und auch schwere Stücke gespielt – vor 40 Jahren. Heute könnte ich, wenn überhaupt, nur noch ganz einfache Stücke spielen, aber mit wem? Ein Geiger braucht (fast) immer andere Musiker, um Musik zu machen: einen Pianisten, Quartettpartner oder ein Orchester.
Die Romanze habe ich vor vielen Jahren öffentlich mit einem Kammerorchester aufgeführt – heute wäre das undenkbar für mich, nicht nur wegen meines aktuellen Wohnortes auf der Insel Fehmarn. In Liebhaberorchestern und mit Feierabend-Streichquartetten möchte ich nicht (mehr) spielen. Zu engagiert war ich während der Studienzeit in ambitionierten Jugendorchestern und ehrgeizigen jungen Streichquartetten, in denen ich gerne die Bratsche spielte. Meine Bratsche aber habe ich bereits vor über zehn Jahren verkauft, an eine begabte junge Musikerin, die sehr glücklich über das schöne Instrument war.
Ja und außerdem habe ich in den letzten Jahren meine Berufung gefunden: das Glück des Büchermachens. Die Musik war ganz in den Hintergrund getreten, auch wegen der Krankheit meines inzwischen verstorbenen Mannes. Am Himmelfahrtstag 2014 hatte ich sie für mich wiederentdeckt, als die Frage gestellt wurde: „Was ist der Himmel für dich?“ Ich habe damals geantwortet: „Für mich bedeutet er Freiheit, Liebe, Grenzenlosigkeit – und Musik.“
Nun also bekam ich die Einladung zu diesem Konzert, in dem die drei Brahms-Sonaten gespielt werden sollten. Brahms ist seit eh und je mein Lieblingskomponist, und die Sonate G-dur, die sogenannte „Regenlied-Sonate“, liebe ich seit Jahrzehnten, nicht nur, aber auch, weil ich sie selber gespielt hatte.
Bei jedem Glück gibt es einen Wermutstropfen – mir wurde klar, dass der Konzerttermin, der 10. Oktober, mit dem „Kennenlerntag“ zusammenfiel, den ich immer mit meinem verstorbenen Mann gefeiert hatte. Anscheinend muss das Leben uns erst immer Schmerzen bereiten, bevor wir wirkliches Glück empfinden können. So hatte ich in einem Blogartikel geschrieben:
„Ich glaube allerdings, dass Glück ohne Trauer gar nicht sein kann –
nur wer auch die Schattenseiten erlebt hat, kann wirkliches Glück empfinden.“
Nach einem Sturz und längerem Klinikaufenthalt mit schmerzhaftem Unterkieferbruch gab es für mich nur ein Ziel: dieses wundervolle Konzert am 10. Oktober mit den Brahms-Sonaten zu erleben. Vielleicht wäre das Glück ohne diesen Unfall zu selbstverständlich geworden? In der Klinik hatte ich viel Zeit zum Nachdenken – über das Loslassen. „Indem ich die Vergangenheit loslasse, können Neues, Frisches und Vitales eintreten“, las ich in einer Affirmation von Louise Hay – wodurch ich erst einmal aufmerksam wurde, dass es etwas zum Loslassen gab. „Liebevoll lasse ich die Vergangenheit los. Die anderen sind frei und ich bin frei. Alles ist gut in meinem Herzen“, hieß es in einer Affirmation gegen Schmerzen.
Nicht nur meine Geige würde ich loslassen an diesem Tag – auch die Ehe mit meinem verstorbenen Mann: „Bis dass der Tod uns scheidet“ – hatten wir uns bei der Trauung versprochen, als wir uns die Ringe aufsetzten. Auch wenn ich es noch so sehr gewollt hätte, es hätte nichts genützt. Diese Ehe ist vorbei. Was geschehen ist, ist vorbei und lässt sich nicht mehr ändern. Nach Hans Christians Tod hatte ich seinen Ring an mich genommen und meinen weiterhin getragen. Trauer, Ängste, Schuldgefühle hielten mich immer noch ein wenig in der Vergangenheit fest. Nunmehr haben beide Ringe einen sehr schönen Platz bekommen.
Loslassen hat immer auch mit Abschied zu tun: Abschied von der Jugend- und Studienzeit, Abschied von Sachen, Abschied von Überzeugungen und Ideen, Abschied von einer Ehe, von einer glücklichen Lebensphase, Abschied von einer schlimmen Zeit, Abschied von einem geliebten Menschen.
Aber jedem Abschied folgt am Neubeginn. So zitierte ich wieder einmal aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse:
„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Am Abend dann endlich das Konzert – in der zweiten Reihe war ich den beiden großartigen Musikern Abel Tomàs und Amir Katz ganz nah. Sie begannen mit der Sonate G-dur von Johannes Brahms, der Regenlied-Sonate. Unglaublich – ich konnte mich an jeden einzelnen Ton, an jeden Zusammenklang, an jede winzige Emotion in diesem Stück erinnern. 40 Jahre war es her, dass ich dieses Stück mit einem begnadeten Pianisten in der Kölner Musikhochschule gespielt hatte – aber statt Wehmut und Trauer erfüllte mich ein unglaubliches Glücksgefühl, ein inneres Strahlen über die Schönheit dieser Musik und die so lebensvolle und emotionale Interpretation durch die beiden jungen Musiker.
Es folgten die Sonate A-dur und nach der Pause dann die Sonate D-moll – die beiden Musiker steigerten sich nochmals – es war ein absoluter Höhepunkt dieses wunderschönen Abends. Der Applaus wollte gar kein Ende nehmen, und so gab es als Zugabe noch ein Scherzo von Brahms und ein ruhiges, besinnliches Abendlied.
Am Ende dieses Konzertes hatte ich losgelassen – es war überhaupt nicht schwer. In der Konzertpause formulierte ich meinen Wunsch ans Universum, ans Leben, das einem doch immer alle Wünsche erfüllt:
Ich möchte einen jungen Musiker finden, der auf meiner schönen Geige wundervolle Musik spielt. Vielleicht kann er sich die Geige selber kaufen, oder es findet sich ein Musikliebhaber, der ihm diese Geige zur Verfügung stellt. Ich weiß schon jetzt, dass nicht der Geldbetrag den Ausschlag geben wird, wem ich meine Geige verkaufe, sondern eine andere Währung: die des Herzens – und die der Musik.
Übrigens habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Loslassen an sich gar nicht schmerzhaft ist. Wirklich schmerzhaft ist die lange Zeit davor, in der man zögert, die Entscheidung darüber zu treffen.
Wenn wir dann endlich losgelassen haben, bekommen wir wieder Energie für Neues. Wenn wir erkennen und akzeptieren, dass sich alles, was uns umgibt, ständig verändert, können wir den Wandel begrüßen! In jedem Moment ändert sich unser Leben, ohne dass wir Einfluss darauf haben. Ständig bekommen wir neue Ideen, lernen neue Menschen kennen, erleben neue Situationen, von denen wir uns bereichern lassen können.
Ich habe heute Abend eine wunderbare Abendstimmung am Meer erlebt, die zu meiner heutigen Stimmung passte. Eine Facebook-Freundin schrieb dazu:
„Abendfrieden. Nur dasitzen und warten, bis die Sonne untergeht.
Da hat kein störender Gedanke mehr Platz.“
(Helga Mildenberger)
Ja, so ist es auch nach dem Loslassen.
Und dann kann man Brahms wieder mit ganz anderen Ohren hören.
„Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser;
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!“
(Johann Wolfgang von Goethe)