Heute ist der zweite Jahrestag nach Hans Christians Tod. Am Valentinstag, dem Tag der Liebenden, am 14. Februar 2014, wurde er beerdigt. Der Pfarrer hatte den Gottesdienst unter das Motto der Liebe gestellt mit dem Spruch aus dem „Hohelied der Liebe“:
Die Liebe hört niemals auf,
wo doch das prophetische Reden aufhören wird
und das Zungenreden aufhören wird
und die Erkenntnis aufhören wird.
(1. Korinther 13,8)
In diesem zweiten Jahr nach seinem Tod habe ich mir viele Gedanken gemacht über die Liebe. Am 14. Juni 2014, genau vier Monate nach seiner Beerdigung, erlebte ich in derselben Kirche den Gottesdienst zur Goldenen Hochzeit eines befreundeten Ehepaares. Wieder stammte der Spruch aus dem „Hohelied der Liebe“ – die Feiern ähnelten sich, nur dass der Ehemann nun am Arm seiner Frau die Kirche verließ, nicht im Sarg.
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
(1. Korinther 13,13)
Mein verstorbener Mann Hans Christian liebte die Philosophie, genau wie die Musik. Und so versuche ich mich dem Thema Liebe mit Hilfe der Philosophie zu nähern.
Mit dem Verstand können wir besser mit der LIebe umgehen. Der Philosoph Wilhelm Schmid schreibt in seinem Buch über die Liebe: „Liebe besteht nicht nur aus Gefühlen, Liebe ist auch eine Entscheidung.“
Gibt es sie, die ewige Liebe? In welcher Form erlebt man sie?
Im Juli 2014 hatte ich in meinem Blogartikel „Einmal leben“ geschrieben:
„Ich rede nicht mehr mit ihm, wir lachen nicht mehr zusammen, wir sitzen nicht mehr gemeinsam beim Essen oder sagen uns, dass wir uns lieb haben. Wir schlafen nicht mehr zusammen ein und wachen nicht zusammen auf. Ich trinke zwar jeden Abend ein Gläschen Sherry »auf diesen schönen Tag« – aber das ist etwas anderes, als es mit Hans Christian war. Trotzdem beginne ich, mein neues Leben zu genießen und wieder glücklich zu sein.“
Hans Christian hatte immer einen Spruch zitiert:
„On n’a pas le droit de tout avoir.“ – Man hat nicht das Recht, alles zu haben.
„Un bonheur c’est tout le bonheur. Deux, c’est comme s’ils n’existaient plus.“
Ein Glück, das ist das ganze Glück. Zwei, das ist so, als ob sie nicht existierten.
Daraus zog ich die Schlussfolgerung: „Einmal leben – ein Glück – das ist das ganze Glück.“ Und: „Ein zweites derartiges Glück kann es nicht geben.“
Mit dieser Aussage hatte ich mich geschützt gegen unerwünschte Annäherungsversuche. Aber sie half mir eigentlich nicht, den Verlust zu verarbeiten. Ich sagte mir immer wieder: „Das Bewusstsein, eine glückliche Zeit erlebt zu haben, macht mich glücklich, denn all die schönen Erinnerungen sind ja noch da.“ Das stimmt bis zum heutigen Tag.
Aber Hans Christian hat auch immer gesagt: „Dreimal ist göttlich.“ Ich war seine dritte Frau. Auf die Frage in einem Interview: „Was war der bisher glücklichste Tag in Ihrem Leben?“ hatte er geantwortet: „Als ich meine jetzige Frau kennenlernte.“ Auf die Frage, welchen Menschen er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, meinte er: „Meine Frau.“ Für ihn war es das größte Glück, dass er mich gefunden hatte nach zwei unglücklichen Ehen. „Dreimal ist göttlich!“
Aber wie ist es, wenn man einmal ein großes Glück erlebt hat? Kann man es nicht ein zweites Mal erleben? Ich glaube, das Leben schreibt da andere Geschichten. Wenn ich selber glücklich bin und mich wirklich liebe, dann kann ich diese Liebe auch mit einem neuen Partner teilen.
Louise Hay sagt dazu:
„Das Leben ist ganz einfach. Was ich gebe, kommt zu mir zurück.
Heute entscheide ich mich dafür, Liebe zu geben.“
Die Liebe hört niemals auf. Was ist das, die ewige Liebe?
Vor ein paar Tagen schrieb ich:
Er ist nicht mehr da. Ich kann nicht mehr mit ihm reden.
Ich spüre keine Gefühle mehr – seine nicht, aber auch meine nicht.
Ich kann ihn auch körperlich nicht mehr spüren.
Einige Menschen haben versucht, mir einzureden, er wäre noch hier, in dem Haus, das mittlerweile mein Haus geworden ist. Und das von Senta, meiner Berner Sennenhündin. Sie prüft jeden Besucher – und zeigt mir sehr schnell, wenn jemand nichts als Liebe meint, wenn er dieses Haus betritt. Senta liebt ihn sofort.
Meine Liebe zu Hans Christian hat ein neues Stadium erreicht: sie ist transzendent geworden. So wird sie ewig bleiben.
„Aber die Liebe bleibt …“ heißt es in dem Lied von Nana Mouskouri, das auch im Beerdigungsgottesdienst erklang. Sie bleibt, aber sie verändert sich. Und eine neue Liebe wird möglich. Auch wenn es heißt: un bonheur c’est tout le bonheur – deux, c’est comme n’existait plus.
Die ewige Liebe ist im Reich der Ewigkeit: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Schon als meine Mutter 1997 starb, schrieb ich in der Danksagung: „Meine Mutter hat mit Optimismus, Herzlichkeit und Humor das Leben gemeistert. Sie hat mir durch ihr Vorbild Liebe und Kraft für ein ganzes Leben gegeben.“
Und in der Danksagung nach Hans Christians Tod schrieb ich: „Schließlich danke ich meinem Hans Christian für die Liebe, die er mir geschenkt hat, für die Geduld, die ich durch ihn gelernt und die Kraft, die ich durch ihn gewonnen habe. Die Erinnerungen an die glücklichste Zeit meines Lebens mit meiner großen Liebe werde ich nie verlieren.“
In der Trauungszeremonie, beim Versprechen für das gemeinsame Leben, hieß es: „Bis dass der Tod uns scheidet.“ Unser gemeinsames Leben, die glücklichste Zeit meines bisherigen Lebens, hatte bei dem feierlichen Trauergottesdienst am Valentinstag einen würdigen Abschluss gefunden. Hier erklang auch das Lied „Aber die Liebe bleibt“, das wir beide so gerne gemocht hatten:
Zeit wird Raum, aber die Liebe bleibt
Wunsch wird Traum, aber die Liebe bleibt
Wenn uns auch das Leben vieles nahm
Was ich von dir bekam das werd ich nie verlieren
Der Schmerz vergeht, aber die Liebe bleibt
Und gibt der Hoffnung einen Sinn
Was die Welt in goldene Bücher schreibt
Macht nicht wirklich reich, aber die Liebe bleibt
(V. Cosma/ N. Gimble/ M. Kunze)
Was bedeutet das? Was bedeutet die „ewige Liebe“?
Es war Liebe – bis weit über seinen Tod hinaus.
Ich musste die Liebe zu mir selber erst mühevoll lernen.
Und ich sagte mein ganz persönliches Dankeschön:
„Danke, dass Du gegangen bist. Du hast mich verlassen, aber Du bist weiterhin ein Teil von meiner Welt. Dass Du gegangen bist, ist für uns beide das Beste. Für Dich war es gut, weil es Dir nun besser geht dort, wo Du jetzt bist. Und für mich war es auch gut, damit ich mein Leben wieder leben kann. Ich wurde erlöst von der schweren Last – Abschied zu nehmen von Dir, während Du noch da warst. Von der Last der Pflege und der Last, immer optimistisch und positiv gestimmt zu sein, obwohl ich tief in mir oft verzweifelt war.“
Ich bin dankbar, denn das Leben liebt mich, und ich liebe das Leben.
Ich trage die Macht in mir, eine neue positivere Wirklichkeit zu erschaffen. ich habe mein Denken bezüglich Schmerz und Verlust geändert. Das bedeutet nicht, dass ich keinen Schmerz, keine Trauer mehr empfinde. Es bedeutet einfach, dass ich nicht in diesen Gefühlen stecken bleibe. Ich habe mir die Zeit genommen, das Ende dieser Ehe zu betrauern. Erst im Oktober 2015 wurde mir klar, dass diese Ehe endgültig zu Ende war und etwas Neues für mich begonnen hatte.
Jedem Abschied folgt ein Neubeginn.
So zitierte ich aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse:
„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Dieser Tage half mir auch ein Text von Louise Hay, die in ihrem Buch „Heile dein Herz“ sagt: „Wir wollen die Liebe ehren, nicht den Schmerz und das Leiden.“ In Zeiten der Sorge können wir neue Hoffnung haben, von Kummer und Schmerz können wir in den Frieden gelangen und unser Herz heilen. Wir müssen nicht bis an unser Lebensende leiden, aber die Heilung geht auch nicht über Nacht.
Das ist wohl wahr – auch ich neigte dazu, in der Vergangenheit, in Trauer und Schmerz verhaftet zu bleiben. Ich habe lange Zeit nicht bemerkt, dass ich eine sehr glückliche Zeit erlebte, dass die Liebe wieder Raum in meinem Leben gewonnen hatte. Irgendwann erkannte ich, was es wirklich bedeutet, wenn man einem Menschen, den man liebt, wünscht, er möge in Frieden ruhen. Er lebt nicht mehr in meiner Welt, aber in einer anderen Welt, wo es ihm gut geht.
Das Leben kann nicht sterben. Seelen sterben nicht. Das Leben hat seinen eigenen Sinn, seinen eigenen Rhythmus. Es verläuft meist nicht so, wie wir es erwarten. Oft bringt es Veränderungen, die uns aus dem eigenen inneren Frieden herausreißen. Wir würden es lieber vermeiden, weil auch die Veränderung Schmerz mit sich bringt. Und wir brauchen viel Geduld, viel Zeit, bis die Seele sich wieder öffnen kann nach dem Schmerz von Verlust und Trauer. Und eines Tages entdecken wir die Wahrheit über das Leben. Egal was geschieht: Ich kann mein Herz heilen. Ich kann wieder lieben. Oder immer noch. Denn die Liebe hört niemals auf.
Ich habe es erfahren, durch Schmerz zum Glück zu kommen, mit Hilfe der Musik. Und ich schrieb in meinem Blogartikel vom 8. August 2015: „Ich glaube allerdings, dass Glück ohne Trauer gar nicht sein kann – nur wer auch die Schattenseiten erlebt hat, kann wirkliches Glück empfinden. Ja, es ist wohl so: Glück wird erst durch Leid zum Glück – und es ist notwendig, dass wir durch den Schmerz gehen, weil wir dann das Leben viel besser annehmen und uns gelassener auf den Moment einlassen können.
Seitdem suche ich immer wieder Orte auf, an denen ich mit meinem Mann glücklich gewesen bin. Ich bin sehr dankbar, dass ich mit ihm eine solch erfüllte Zeit und all das Schöne erleben durfte. Ich erfahre vieles auf eine neue, aber auch sehr schöne Art und Weise. Das zeigt, dass man selbst nach Leid, Schmerz und Trauer eine neue gute und glückliche Zeit erleben kann.“
Ewige Liebe – bei dem Philosophen Wilhelm Schmid fand ich den Begriff der transzendenten Liebe: „Auf dieser vierten Ebene (nach körperlich, Gefühle, Gedanken) besteht die Liebe darin, nur noch Liebe zu sein. Da jedoch die gewöhnliche Wirklichkeit dabei überschritten wird, kann der ungewöhnlichen Erfahrung der Name der Transzendenz gegeben werden.“ … „Dieser Ewigkeitsmoment, dieses Unsterblichkeitsgefühl ist wohl das Mysterium der Liebe, nach dem viele suchen.“
Das Mysterium der Liebe – das war es offenbar, was mir all die Jahre die Kraft gegeben hat, meinen Mann zu pflegen und zu behüten, bis zu seiner letzten Stunde. Denn von seiner Liebe war oft nicht mehr viel zu spüren …
Wilhelm Schmid spricht von einem Gegenpol zur Dimension der Endlichkeit und Wirklichkeit: Eine unendliche Dimension, die von Energie und somit von Möglichkeiten erfüllt ist.
Und so kreierte ich den Spruch: „Eines Tages fahren wir über das weite Meer in die Unendlichkeit, immer den Sternen nach.“
Erst heute schaute ich wieder am Strand von Fehmarnsund auf das weite Meer und den Horizont, dessen Begrenztheit wir Lebenden nicht erkennen können. Obwohl es dort hinter dem Horzont ein anderes Leben, eine andere Welt geben soll, in der wir die Verstorbenen eines Tages vielleicht wiedersehen können.