Heute feiere ich den 100. Geburtstag meiner Mutter, Eva Dethlefs. Vor 24 Jahren habe ich zum letzten Mal mit meiner Mutter zusammen Geburtstag gefeiert, ihren 76. Geburtstag.
Heute hat auch das „Lämmerlein“ Geburtstag, es ist 24 Jahre alt geworden (im Bild oben links). Meine Mutter sagte damals, es sei das schönste Geburtstagsgeschenk, das sie je bekommen habe. Mein Mann und ich haben immer eine ganze Schar von „Tieren“ mit auf die Reise genommen: Lämmerlein, Walfisch, Neger und Dr. Kreuel – außerdem gab es noch Bostiche, den Hund. Der hat leider nicht überlebt, als Senta kam. Heute nehme ich nur noch Senta mit auf die Reise.
Den „Walfisch“ und „Dr. Kreuel“ hat auch meine Mutter schon gekannt – der „Neger“ kam erst später dazu. Hans Christian hat ihn für mich auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin gewonnen.
Am 11. November 1997 starb meine geliebte Mutter ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Der Abschied von ihr war das Schlimmste, was ich jemals erlebt hatte. Monatelang war ich in einer Art Trancezustand, stand offenbar unter Schock. Denn meine Mutter war meine allerbeste Freundin gewesen und hatte mich stets begleitet und unterstützt. Sie hatte mich bestärkt, mit 42 Jahren das Promotionsstudium aufzunehmen und durchzuhalten. Aufgrund ihrer Erfahrung als Grundschullehrerin hatte sie nächtelang mit mir diskutiert. Sie hat Korrektur gelesen, mich ermutigt, beraten und immer wieder zur Weiterarbeit motiviert. Und dann starb sie plötzlich und konnte den Abschluss meiner Arbeit nicht mehr erleben. Dabei wäre sie so stolz gewesen.
Meine Dissertation erschien erst acht Jahre später. Ich habe sie meiner Mutter gewidmet:
In liebevoller Erinnerung an meine Mutter Eva Dethlefs (1921 – 1997)
Und in Dankbarkeit
• für eine schöne Kindheit und Jugend voller Musik,
• für eine umfassende Ausbildung und das Studium,
• für viele Gespräche über Schule, Erziehung und Unterricht,
• für die Erziehung zu Selbständigkeit und Kritikfähigkeit,
• dafür, immer wieder bestärkt worden zu sein, den eigenen Weg
zu gehen, auch gegen Widerstände,
• für die Kraft, dies durchzuhalten,
• dafür, gelernt zu haben, Dinge zu ändern, die man ändern kann
und Vorgaben zu hinterfragen,
• dafür, Liebe und Freiheit als höchste Werte erfahren zu haben.
Heute ging mir vieles durch den Kopf: Mit meiner Mutter war ich 1977 zum ersten Mal auf meiner Trauminsel Fehmarn – in einer kleinen Wohnung am Südstrand. Dort habe ich dann vor fast 29 Jahren eine kleine Strandwohnung gekauft, eingerichtet und vermietet – mit Unterstützung meiner Mutter. In unseren ersten Herbstferien waren wir auch in Fehmarnsund, dort, wo ich später viele Jahre lang so gerne mit Senta spazieren gegangen bin.
Fehmarn hatte meine Mutter an ihre Heimat erinnert – sie war in Danzig geboren und aufgewachsen. Und sie hatte stets die Ostsee geliebt, als junges Mädchen bereits im allerersten Frühling und noch im spätesten Herbst darin gebadet.
Früher dachte ich oft, dass meine Mutter – wenn es tatsächlich eine Wiedergeburt gibt – in Gestalt von Senta zu mir zurück gekommen war. Sentas schöne braune Augen erinnern mich an meine Mutter, aber auch die Art, wie sie mich stupst, wenn ich wieder mal vergessen habe, etwas zu essen, wie sie Unnötiges wegschleppt und Überflüssiges zerreißt, und wie sie mich daran erinnert, dass wir unbedingt spazieren gehen müssen, auch wenn es regnet. Sie sorgt für mich, damit ich genug an die frische Luft komme und mich bewege, regelmäßig esse, viel schlafe und den schönen Spaziergang genieße.
In all den Jahren auf Fehmarn hat Senta gerne in der Ostsee gebadet, sogar im Winter. Sie war quietschvergnügt, wenn wir am Strand waren und hüpfte vor Freude um mich herum.
Meine Mutter hätte ihre Freude an ihr – sie hat sich doch früher auch immer ein „Hündchen“ gewünscht, so wie mein Mann. Aber in unserem damaligen Wohnhaus durfte man keine Hunde halten, und meine Mutter dachte auch, dass sie nicht mehr mit einem Hund spazierengehen konnte. Denn irgendwann konnte sie nicht mehr gut gehen. Damals gab es noch keinen Rollator – einen Rollstuhl aber oder auch nur einen Gehstock hätte meine Mutter niemals benutzt.
Oft habe ich gedacht, dass meine Mutter sich ein wenig wundern würde, weil ich viele Jahre in einem kleinen Dorf auf Fehmarn gelebt habe. Ich bin in Weddinghusen/Norderdithmarschen geboren – aber an dieses Haus und die Zeit dort hatte meine Mutter keine guten Erinnerungen.
Als ich in unseren ersten Ferien hier auf Fehmarn den Wunsch äußerte, mich als junge Lehrerin an das neu gegründete Inselgymnasium versetzen zu lassen, warnte mich meine Mutter davor, in eine solch kleine Gemeinde in Norddeutschland zu ziehen. Es sei sehr schwierig, dort akzeptiert und integriert zu werden. Sie selber hatte damals Plattdeutsch gelernt und damit die Hochachtung der Bauern im Umkreis erworben, die ihr und unserer Familie kurz nach dem Krieg sehr geholfen hatten.
Nun – ich war damals Beamtin in Nordrhein-Westfalen und es wäre sowieso schwierig gewesen, eine Versetzung nach Schleswig-Holstein zu erlangen. Als ich dann 2010 mit meinem Mann nach Fehmarn umgezogen bin, hatten sich die Zeiten grundlegend geändert: Fehmarn ist weltoffen, vor allem durch den Tourismus. Das Leben hier ist heute viel einfacher, weil man nicht auf die kleine Dorfgemeinschaft angewiesen ist, sondern durch die rasante Entwicklung des Internets Freunde, Bekannte und Geschäftsbeziehungen auf der ganzen Welt haben kann – auch von Neujellingsdorf aus.
Das war Ende der 1970er Jahre noch nicht abzusehen – auch noch nicht 1993, als ich meinen ersten Computer bekam und mit meinem Promotionsstudium begann: damals erschien es mir sehr reizvoll, dass man bei einem Internetbuchhändler (Amazon hieß damals noch ABC) alle möglichen Bücher recherchieren und erwerben, und dass man Fachartikel und ganze Bücher aus Bibliotheken bestellen konnte.
Heute bin ich sehr glücklich, wieder in Bamberg zu leben. Als ich mir vor 2 Jahren eingestand, dass ich in Neujellingsdorf sehr einsam war und auch mein Unternehmen sich nicht so gut entwickeln konnte, wie ich es mir vorstellte, musste ich immer wieder daran denken, was mir meine Mutter vor so vielen Jahren gesagt hatte!
Sicher hätte sie es richtig gefunden, dass ich das Haus verkauft und wieder nach Bamberg gezogen bin. Statt Haus und großen Garten zu pflegen – wofür man auf Fehmarn nur schwer Hilfe fand – lebe ich jetzt in einer wunderschönen Penthousewohnung nahe der Innenstadt von Bamberg.
Ich könnte von hier zu Fuß ins Sinfoniekonzert oder ins Theater gehen oder zum Stadtbummel – wenn nicht gerade wegen der Corona-Pandemie alles geschlossen wäre. Zwei nette Frauen helfen mir bei der Wohnungsreinigung und für die Verlagsarbeit habe ich eine tolle Assistentin gefunden. Friseur, Ärzte, Banken und Geschäfte kann ich zu Fuß erreichen – und ein wahres Paradies für Senta und mich liegt direkt vor der Tür: die Promenade am Main-Donau-Kanal entlang und das wundervolle Haingebiet, wo wir oft ausgedehnte Spaziergänge machen.
Der Weg in die Berge – nach Seefeld/Tirol und nach Armentarola in den Dolomiten – ist kurz. Und sobald die corona-bedingten Beschränkungen beendet sind, fahren wir wieder hin. Aber hier in Bamberg haben wir auch schon traumhaftes „Seefeld-Wetter“ erlebt – so nannten wir das früher immer, wenn wir an blauen Himmel, Sonnenschein und Schnee dachten am oft trüben und regnerischen Niederrhein.
Das Schlittschuhvergnügen am Hainweiher hätte meiner Mutter gefallen – in unseren ersten Winterurlauben in Mittenwald und Seefeld hat sie mir das Schlittschuhlaufen beigebracht und wir haben wundervolle Stunden auf der Eisbahn verbracht.
All dies, und vieles mehr von meinem Lebensglück verdanke ich dem Erbe meiner Mutter:
Meine Mutter war immer Optimistin – sie musste im Krieg ihre Heimat Danzig verlassen. Mit ihrem ersten Baby in der Tragetasche kam sie im kalten Januar 1945 mit dem Schiff über die Ostsee nach Schleswig-Holstein. Sie hatte zugesehen, wie die „Wilhelm Gustloff“ mit Tausenden von Menschen an Bord versank. An Land kämpfte sie sich durch Eis und Schnee und kam wohlbehalten mit ihrem Baby, meinem Bruder Karsten, in Lunden bei ihren Schwiegereltern an.
Zwei Jahre nach dem Krieg, am 10. Juni 1947, starb mein ältester Bruder mit noch nicht ganz drei Jahren an Diphterie, die man nicht erkannt hatte. Mein zweiter Bruder war gerade geboren und wurde am 13. Juni 1947 getauft. Mein Vater war damals auch an Diphterie erkrankt.
Die Tragik, dass man sein Baby im Krieg auf der Flucht vor Schlimmem bewahrt hat und es dann sterben muss, als schon wieder bessere Zeiten eingekehrt waren, wurde mir erst später bewusst. Im November 2005 besuchte ich mit meinem Mann den Kirchhof in Weddingstedt. Ich sah die Taufkapelle mitten auf dem dunklen Kirchhof, von der meine Mutter mir nie erzählt hatte. Ich kannte nur mein Taufbild, das vor unserem Haus in Weddinghusen aufgenommen worden war.
All das hat meine Mutter gemeistert. Als verwöhnte Tochter aus der Großstadt lebte sie nun auf dem Lande und baute Gemüse und Obst an, um die Familie durchzubringen. Aber sie ist immer fröhlich und optimistisch geblieben.
Fünf Jahre später wurde ich geboren und habe vieles von meiner Mutter geerbt – vor allem ihren unerschütterlichen Optimismus. Den folgenden Spruch schrieb sie mir 1962 in mein Poesiealbum:
Ich bin meiner Mutter unendlich dankbar für all das, was sie mir gegeben hat: für den Mut und den Optimismus, die Herzlichkeit und den Humor, und für die Liebe und die Kraft, die für mein ganzes Leben reichen.
Was würde sie wohl sagen, wenn sie wüsste, dass ich für sie heute, an ihrem 100. Geburtstag, das schöne Impromptu As-dur von Franz Schubert auf meinem eigenen Flügel gespielt habe, das sie immer so geliebt hat? Und dass ich meine Geige vor 5 Jahren verkauft habe, nachdem ich schon viele Jahre nicht mehr darauf gespielt hatte?
Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass ich mein eigenes Haus auf Fehmarn wieder verkauft habe, in dessen Garten zur Zeit die Schneeglöckchen blühen, die ich ihr früher immer zum Geburtstag geschenkt habe?
Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass ich mit Senta bei einem langen Spaziergang im Bamberger Hain ein riesiges Waldstück voller Schneeglöckchen entdeckt habe?
Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass ich seit zehn Jahren meinen eigenen Verlag habe und schon weit über 200 Bücher publiziert habe, als wären es meine eigenen Kinder?
Ich glaube, sie wäre sehr stolz auf mich, auf ihre geliebte Tochter. Ich bin jedenfalls sehr dankbar für alles, was ich von meiner Mutter bekommen habe: die Liebe zur Ostsee, zu den Bergen, zum Skilaufen, zur Musik – ohne meine Mutter hätte ich niemals Musik studieren und niemals promovieren können, nie hätte ich die Freuden des Skilaufens und die Schönheit der Tiroler Berge, vor allem in Seefeld, entdeckt, und vielleicht wäre ich dann auch nie in mein heute so geliebtes Armentarola in den Dolomiten gekommen.
Ganz wichtig aber erscheint mir eins – meine Mutter hat ja mit 56 Jahren etwas angefangen, was sie bisher nicht zu können glaubte: malen. Sie hatte mir zu Weihnachten 1977 einen Kalender mit 12 selbst gemalten Bildern geschenkt – und das war der Start in ihr neues Leben! Eine Galeristin stellte ihre Bilder aus und schickte sie zu einem Sonntagsmaler-Wettbewerb ein – sie gewann sofort einen Preis und nahm danach an etlichen Ausstellungen teil. Sie malte so, wie SIE es für richtig hielt, nicht Lehrer, Lehrbücher oder andere Vorbilder – und gewann viele Fans und auch Käufer ihrer schönen Bilder. Denn meine Mutter hatte die Gabe, ganz einfache, alltägliche Dinge auf solch schöne individuelle Weise zu malen, so dass sie die Herzen der Betrachter erreichte.
So widmete ich ihr nach ihrem Tod den Spruch ihrer Lieblingsautorin Pearl S. Buck:
Die wahre Lebenskunst besteht darin,
im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.
Und in den nächsten Tagen werde ich endlich all die Bilder aufhängen, die noch nach meinem Umzug vor einem Jahr eingepackt darauf warten, wieder in ihrer Schönheit bewundert zu werden.
Neulich schrieb mir eine Freundin: „Sie sieht Dir immer zu und ist sehr glücklich über Deinen Weg! Sie liebt Dich sehr!“
Sie schrieb mir auch: „Ich hätte Deine Mutter gerne kennen gelernt!“ – Und ich habe geantwortet: „Du hättest sie sicher gemocht – nun kennst Du sie ein wenig durch mich.“
Ja, das ist meine Aufgabe, all die guten Ideen und Gedanken, die mir meine Mutter vermittelt hat, weiter in die Welt zu tragen.
Vor allem: Freiheit und Liebe als höchste Werte erfahren und weitergeben zu dürfen.
Danke, liebe Mutti – ich werde Dich nie vergessen – Du bist immer in meinem Herzen.
Deine Beate mit Senta